»das fehlende Segment« eine Ausstellung der HFK zur Auseinandersetzung mit der Nordischen Kunsthochschule Bremen
»RELIEF« 2024 (Felix Dressen & Evin Oettingshausen)
Recherche Hilfe zu NS-enteigneten Gegenständen & kleine Web-Link-Liste
»RELIEF« 2024 (Felix Dressen & Evin Oettingshausen)
Recherche Hilfe zu NS-enteigneten Gegenständen & kleine Web-Link-Liste
Neun Fenster lehnen an den Museumswänden. Auf die Scheiben der weißen Kunststofffenster sind große orangerote Lettern gemalt. Was wie eine minimalistische Geste anmutet, ist vielmehr eine Übertragung von Archivmaterial aus der unmittelbaren Nachbarschaft der Weserburg in den institutionellen Kunstkontext. Es sind neun von neunzig Fenstern der Fassade des Stammsitzes der Logistikfirma Kühne + Nagel. Die Buchstaben sind Fragmente eines Statements, das Unbekannte im Februar 2017, während der Abrissarbeiten zugunsten eines größeren Neubaus, in Erinnerung an die von dem Speditionsunternehmen verschwiegene eigene Rolle während der NS-Zeit an der Fassade angebracht hatten. Sie bilden den unzerstörten Bestand der bemalten Fenster. Die Botschaft an der Fassade wird nie mehr lesbar sein, doch die Leerstellen innerhalb der Installation Patches ofProtest(0C7354HGE) verweisen auf die fehlenden Fensterelemente. Rhythmisiert von verschieden großen Zwischenräumen basiert hier das serielle Prinzip nicht auf der Wiederholung und Spiegelung physischer Formen wie beispielsweise bei Donald Judds Untitled von 1968, sondern die serielle Narration der Leerstellen erklärt sich aus der Werklogik selbst, die auf eine von Weglassungen geprägte Geschichte zurückgeht.
Als standardisierte Unikate sind die Fenster, die als Malgrund dienten, symbolische Inszenierungen des Grundes der Bemalung selbst: Das 1954 entwickelte Kunststofffenster wurde im Zuge des sogenannten deutschen Wirtschaftswunders millionenfach – so auch im 1961 fertiggestellten Stammsitz von Kühne + Nagel – verbaut. Das Plastikfenster ist der Inbegriff einer wirtschaftlich prosperierenden Bundesrepublik, die – auf Kriegsschutt gebaut – die persönlichen Verflechtungen mit dem faschistischen Apparat vergessen will und doch in Kontinuität agiert. So war der Architekt des Gebäudes Cäsar Pinnau kein unbeschriebenes Blatt. Im Dritten Reich hatte er zum Kreis um Albert Speer gehört und erhielt beispielsweise 1938 den Auftrag für die Innengestaltung der Neuen Reichskanzlei.
Kühne + Nagel selbst war neben der Ausführung von Aufträgen in allen besetzten Gebieten Hauptakteur der sogenannten M-Aktion, auf die mit der Beschriftung der Fenster mit den Worten »500 SCHIFFE 735 ZÜGE 1942-1944 MEHR ALS NUR DIENSTLEISTER… —— GEGEN DAS VERGESSEN!« Bezug genommen wurde. Möbel, Gebrauchsgegenstände sowie Kunstwerke der deportierten, zumeist jüdischen Bevölkerung aus Frankreich und den Beneluxstaaten wurden aus deren Wohnungen geraubt und zum Weiterverkauf nach Deutschland transportiert. Davon profitierte das Unternehmen nicht nur durch die Gewinne, sondern erlangte eine logistische Expertise, die nach dem Krieg weiter zur Prosperität des Unternehmens beitrug. Die »Banalität des Bösen« manifestiert sich nicht in der einen grausamen Tat, sondern in der Addition bürokratischer Vorgänge und einem Apparat, in dem der Einzelne sein Gewissen an die vorherrschende Meinung abtritt.
Ein weiterer Teil der Werkgruppe Patches of Protest verweist mit dem Titelzusatz (WK20170204S9print.pdf) auf den Aktennamen des entsprechenden Presseartikels, der im Onlinearchiv der Bundesvereinigung der Opfer der NS-Militärjustiz frei einsehbar ist. Dieser gibt Auskunft, dass die Bemalung direkt am Tag nach ihrer Anbringung zensiert wurde, indem die Fenster nach einer kurzfristig anberaumten Sperrung aus dem Gebäude gerissen wurden: »Die Sperrung wurde nötig, weil beim Abbruch des Kühne + Nagel- Gebäudes an der Martinistraße eine Hauswand einzustürzen drohte.« Die Sperrung wurde mit einer Gefahr begründet, die jedoch erst durch die Abrissarbeiten während dieser Sperrung eintreten konnte.
Es ist eine radikale Aneignung sowohl der Fenster als auch des Presseartikels, die der Künstler als Archivar in den Kunstkontext einschleust. Was der Baggerzensur anheimfallen sollte, wird nun zum dauerhaften Artefakt, das Fragen von Geschichtsschreibung und Autorschaft aufwirft.
Mona Schieren